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Einige Einwände gegen „TüBus ticketfrei“ – und unsere Antworten von Gruppe ZAK³ Tübingen

Seit 2008 fordern wir einen Nulltarif im Tübinger Stadtverkehr („TüBus umsonst“). Dies aus zwei grundsätzlichen Überlegungen:

1. Mobilität wird für immer mehr Menschen unerschwinglich. Um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, muss mensch mobil sein können: Mobilität ist ein Grundrecht. Und die Ermöglichung sozialer Teilhabe eine Grundvoraussetzung für eine demokratische Gesellschaft.

2. Die Auto-Gesellschaft stößt an ihre Grenzen. Die Städte ersticken im motorisierten Verkehr, der Klimawandel bedroht die Existenzgrundlagen der gesamten Menschheit. Wir brauchen neue, sozial- und klimaverträgliche Konzepte der Mobilität.

Zunehmende Armut, soziale Ausgrenzung und der weltweite Klimawandel bedrohen unser soziales Zusammenleben.  Unsere bisherige Lebensweise ist nicht zukunftsfähig. Das erfordert rasche und radikale Antworten. Ein Nulltarif im Stadtverkehr (und damit verbunden der Umstieg vom Auto in den Bus) wäre eine solche Antwort, die direkt zu einer gerechteren und klimafreundlicheren Lebensweise beiträgt.

Immer wieder, wenn in den letzten Jahren das Thema Nulltarif in Tübingen debattiert wurde, waren es ähnliche Argumente, die dagegen ins Feld geführt wurden – nun auch wieder in der aktuellen Debatte über den von der Stadtverwaltung im April 2017 vorgelegten und durchgerechneten Vorschlag.  Wir haben in unserer Presseerklärung vom 28.04.17 manche dieser Einwände als „hasenfüßig“ bezeichnet. Politik braucht auch Visionen. Wenn wir Antworten suchen auf die großen Herausforderungen dieser Zeit, dürfen wir nicht zu klein denken.  In diesem Sinne wollen wir mit diesem Papier einladen, die bisherigen Einwände in aller Sachlichkeit daraufhin zu prüfen, ob sie dem großen Wurf „TüBus umsonst“ tatsächlich entgegenstehen.

1. Einwand: Ein Nulltarif (oder ein „ticketfreier“ Stadtverkehr) verstößt gegen das Verursacher-Prinzip. Wer den Bus nutzt, soll auch dafür zahlen. Es ist nicht gerecht, dass Personen, die den Bus selten oder nie nutzen, dafür genauso zahlen sollen wie VielfahrerInnen.

Antwort: Das Gleiche gilt auch für viele andere öffentliche Güter und Dienstleistungen, die jeweils nur von einer Minderheit der Bevölkerung genutzt werden. Beispiele: Sportanlagen, Parks, Wälder, soziale Beratungsstellen, Volkshochschulen, Krankenhäuser, Obdachlosenunterkünfte etc. Aber ihre gesellschaftliche Funktion wird als so wichtig erachtet, dass sie trotzdem weitgehend umsonst zur Verfügung gestellt werden (bzw. von allen aus Steuermitteln bezahlt werden). In einer Zeit, in der Mobilität als Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben immer wichtiger wird, sollte auch der Stadtbus eine solche öffentliche Dienstleistung darstellen („Daseinsvorsorge“). Außerdem ist ein gut funktionierender ÖPNV ein wertvolles Sicherheitsnetz für alle, die normalerweise mit dem Fahrrad oder mit dem Auto fahren: Wenn das Wetter zu schlecht ist fürs Radeln, wenn man krank oder verletzt ist, wenn das Auto in der Werkstatt ist, wenn man im Alter weniger mobil wird, etc. Abgesehen davon: Alle würden davon profitieren, wenn immer mehr Leute in den Bus umsteigen. Weniger Autofahrten heißt: Weniger Lärm, weniger Dreck, weniger Unfälle,
weniger Flächenverbrauch für Parkplätze, etc. Die Stadt würde für alle lebenswerter. Und die verbliebenen hartnäckigen AutofahrerInnen stehen seltener im Stau! Ein allgemein finanzierter Nulltarif funktioniert wie eine Krankenversicherung: Da zahlen die Gesunden auch solidarisch mit für die Behandlung der Kranken.

2. Einwand: In Tübingen fahren schon heute sehr viele Leute mit dem Bus. Das lässt sich mit einem Nulltarif kaum noch steigern.

Antwort: Eine wissenschaftliche Haushaltsbefragung 2013 zum Mobilitätsverhalten der TübingerInnen „im Binnenverkehr“ kam zu folgendem Ergebnis: 37% aller Wege werden zu Fuß zurückgelegt, 19% mit dem Fahrrad, 18% mit dem ÖPNV und 26% mit dem Auto. D.h.: Verglichen mit anderen Städten ist der Auto-Anteil in Tübingen schon heute relativ gering. Aber: Bei längeren Strecken (Stadtteile, Bergstrecken!) steigt der Auto-Anteil erheblich. 41% aller zurückgelegten Kilometer werden mit dem Auto gefahren. Da wäre durchaus noch Potenzial für mehr Bus-Fahrten. Die aktuelle Vorlage der Stadtverwaltung vom April 2017 geht davon aus, dass der ÖPNV in Tübingen durch einen ticketfreien Nahverkehr um ca. 1/3 gesteigert werden könnte, das wären jährlich 6,6 Millionen zusätzliche Fahrgäste. Und: Dass der ÖPNV-Anteil in Tübingen relativ hoch ist, liegt vor allem an den vielen Studierenden. Für die gilt schon heute eine sehr günstige Flat-Rate („Semesterticket“). Die berufstätigen TübingerInnen fahren bisher eher selten mit dem Bus.

3. Einwand: Bei einem Nulltarif würden die Falschen auf den TüBus umsteigen: nämlich nicht die Autofahrer, sondern die FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen. Dann würde noch mehr CO2 produziert als heute.

Antwort: Wahrscheinlich gibt es tatsächlich einige Schlaffis, die aus reiner Bequemlichkeit lieber den Gratis-Bus nehmen, als ein paar Schritte zu Fuß zu gehen oder eine kurze Strecke zu radeln. Aber wenn man das verhindern wollte, müsste man auch Monatskarten und Semestertickets abschaffen. Viele (kurze) Strecken können sowieso viel schneller und bequemer mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt werden. Da kann auch ein Umsonst-Bus nicht helfen. Viele Leute radeln oder gehen einfach deshalb, weil es mehr Spaß macht, flexibler, gesünder und entspannender ist. Bus und Fahrrad sind keine Konkurrenten, sondern sollten einander ergänzen. Intelligente Konzepte als Zwischenlösungen: Mehr Fahrrad-Mitnahmemöglichkeiten an den Bergstrecken, Solar-Akkus an den Basisstationen der Bergetappen (nach Waldhäuser-Ost etc.). Bessere Radweg-Verbindungen. Mehr und bessere Rad-Stellplätze. Öffentliche Bikes. Überall umsteigen von Bus auf Rad und umgekehrt.

4. Einwand: Das vorgeschlagene Finanzierungsmodell ist sozial ungerecht.

Antwort: Der von der Verwaltung vorgeschlagene Mix aus Grundsteuererhöhung, Gewerbesteuererhöhung und Umschichtung von Haushaltsmitteln wäre sozial viel ausgewogener als das bisherige System. MieterInnen und EigentümerInnen in kleinen Wohnungen zahlen weniger Grundsteuer, Wohlhabende in großen Häusern zahlen mehr. Hartz4-BezieherInnen zahlen gar keine. Ja, manche TübingerInnen würden mehr bezahlen als bisher (vor allem solche, die bisher nie mit dem Bus fahren). Aber für die große Mehrheit wäre das neue System günstiger und gerechter.
Das bisherige Ticketsystem ist sehr umständlich und belastet die Falschen: BonuscardBesitzerInnen zahlen 29,60 Euro im Monat,  SchülerInnen zahlen 36 Euro. GeringverdienerInnen zahlen die volle Monatskarte von 49,40 Euro. Für sie bringt der Palmer-Vorschlag eine riesige Entlastung. Auch die alternativ diskutierte – bisher gesetzlich noch nicht vorgesehen – Verkehrsumlage wäre nur dann sozial gerechter, wenn sie nach dem Vorbild der Kindergartengebühren sozial gestaffelt wird und Kinder und Jugendliche, Geringverdienende, Bonuscard-BesitzerInnen, Flüchtlinge etc. ganz befreit sind.  Aber selbst eine (sozial ungerechte) Pro-Kopf-Abgabe würde immerhin auch die Reichen (die weiterhin mit ihrem dicken Auto fahren) zu einem Beitrag zum öffentlichen Busverkehr zwingen.  Umgekehrt würden gerade viele Arme, die gar kein eigenes Auto haben, von einem Ausbau des ÖPNV profitieren. Selbst mit einer Pro-Kopf-Pauschale von 13,50 Euro im Monat (das wäre der von der Stadtverwaltung errechnete Pro-Kopf-Preis) wären sie noch erheblich billiger dran als mit dem heutigen Tübinger Sozialticket.

5. Einwand: Eine Finanzierung über die Gewerbesteuer belastet und vertreibt die Tübinger Unternehmen.

Antwort: Auch die Tübinger Unternehmen werden von einem ticketfreien und ausgebauten Busverkehr profitieren. Ihre Beschäftigten kommen besser zur Arbeit, ihre Transporte stehen weniger im Stau, die Firmen brauchen weniger Parkplätze. Deswegen sollen sie sich auch an der Finanzierung beteiligen. Wir gehen davon aus, dass die Höhe der Gewerbesteuer nur einer unter sehr vielen Faktoren – und sicher nicht der gewichtigste – ist, weshalb ein Unternehmen in einer Stadt seinen Standort hat oder nicht.

6. Einwand: Der ÖPNV wird schon jetzt hoch subventioniert.

Antwort: Stimmt, und das ist auch richtig so. Aber die bisherige Finanzierung des ÖPNV ist gescheitert. 2019 läuft das entsprechende Bundesgesetz aus. Und die Ticketpreise sind jetzt schon für viele Menschen unerschwinglich hoch. Der Nahverkehr braucht eine neue, zukunftstaugliche Finanzierungsgrundlage. Nirgendwo auf der Welt wird der ÖPNV kostendeckend betrieben. Auch in Tübingen fließen schon jetzt mehrere Millionen Euro Steuergelder in den ÖPNV (weil die Stadtwerke ohne Busverkehr viel mehr Gewinn machen würden und diesen an die Stadtkasse abführen könnten). Bei einem Nulltarif muss sich diese Subvention gewaltig erhöhen. Die Kommune muss neue Einnahmemöglichkeiten finden (Pro-Kopf-Verkehrsabgabe, City-Maut für Autos, höhere Grundsteuer, höhere Gewerbesteuer, zweckgebundene Zuschüsse von Land und/oder Bund, o.ä.)  Auch andere Verkehrsmittel werden aus Steuergeldern subventioniert. Straßenbau, Parkhäuser, etc.  Flugbenzin/Kerosin ist steuerfrei. Fußgänger bekommen kostenlos Gehwege zur Verfügung gestellt. Es ist eine politische Frage, für welche Art von Mobilität die Gesellschaft wie viel Geld ausgeben will. Außerdem sollte man die einzelnen Verkehrsmittel nicht nur betriebswirtschaftlich bewerten, sondern  auch volkswirtschaftlich. Wenn man die hohen „Nebenkosten“ des Autoverkehrs einberechnet (Unfallopfer, Umweltbelastung, Zeitverlust im Stau, etc.), dann ist der ÖPNV viel günstiger — die Subvention dafür ist also gut angelegtes Geld.

7. Einwand: Das Hauptproblem sind die PendlerInnen – nicht die TübingerInnen! Ohne die Einbeziehung von Naldo wäre ein Tübinger Nulltarif wirkungslos.

Antwort: Selbstverständlich wäre der Nutzen eines ticketfreien ÖPNV im Landkreis oder sogar im ganzen Naldo-Gebiet ungleich höher. Viele der Autos, die heute in Tübingen im Stau stehen, kommen aus dem Umland (vor allem Berufs- oder Einkaufs-PendlerInnen). Allerdings ist es auch viel aufwändiger, in den Dörfern einen guten Bus- und Bahnverkehr aufzubauen (zusätzliche Haltestellen, dichterer Takt – auch am Abend und am Wochenende!) als in der Stadt Tübingen selbst. Ohne gute ÖPNV-Verbindungen können viele PendlerInnen nun mal kaum aufs Auto verzichten. Und die politischen Hürden für einen Nulltarif dürften im Umland eher noch höher sein als in der Stadt Tübingen selbst. Wir verstehen „TüBus Umsonst!“ als Startschuss für die gesamte Region. Man kann gut damit in Tübingen anfangen und das Konzept später ausweiten. Attraktive Angebote für Ein- und Auspendler, z.B. Park & Ride Parkplätze am Stadtrand mit guter Anbindung, werden das Angebot des Tübinger ÖPNV für Pendler attraktiver machen. In Tübingen ansässige Firmen können an der Finanzierung von besonderen Angeboten für auswärtige Beschäftigte beteiligt werden.  „TüBus ticketfrei“ würde auch als rein Tübinger Projekt funktionieren und hätte bereits hier positive soziale und ökologische Wirkungen.

8. Einwand: Was nichts kostet, ist nichts wert.

Antwort: Die Erfahrung lehrt, dass Dinge, die umsonst zur Verfügung gestellt werden, gesellschaftlich wenig Achtung erfahren. Damit besteht die Gefahr, dass nicht weiter in eine verbesserte Qualität des TüBus investiert werden wird (Taktzeiten, Vernetzung, Barrierefreiheit, Transparenz, Kundenservice, Sicherheit…). Das könnte man verhindern, wenn die TübingerInnen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten. Mit der bundesweit beachteten Pionier-Tat „Nulltarif“ würden die TübingerInnen stolz sein auf ihren „Bürgerbus“. Das Modell hätte weit über die Region hinaus Strahlkraft, dieses Image würde wiederum der Stadt zugutekommen (Tourismus, Einkaufen in der Stadt…).

9. Einwand: Die Ticketfreiheit kostet die Kommune viel Geld. Dieses Geld  sollte man lieber für gebührenfreie Kindergärten oder andere Aufgaben verwenden.

Antwort: Wir haben überhaupt nichts gegen gebührenfreie Kindergärten, im Gegenteil! Unserer Meinung nach sollte die gesamte soziale Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, Mobilität) von der Allgemeinheit finanziert werden – also alles, was die einzelnen Menschen und die Gesellschaft als Ganzes zum Leben brauchen. Diese Diskussion sollten wir führen. Und dabei auch Kriterien dafür entwickeln, was zum gemeinsamen guten Leben notwendig ist – und was jede/r selbst erledigen soll. Ein Nulltarif im Nahverkehr hätte neben der sozialen Entlastung zusätzlich auch eine ökologische Lenkungswirkung: weniger Autofahrten, weniger Unfälle, weniger Lärm, weniger Ressourcenverbrauch, weniger CO2. Insofern wäre ein ticketfreier TüBus auch eine Antwort auf den existenzgefährdenden Klimawandel.

10. Einwand: Ein Nulltarif ließe sich auch schrittweise einführen: günstigere Sozialtickets, mehr Jobtickets, kostenlose Schülermonatskarten, Nulltarif erst ab 19 Uhr, etc.

Antwort: Wir  würden auch günstigere Sozialtickets oder Ticketfreiheit für Minderjährige begrüßen, jeden Schritt hin zu einem allgemeinen Nulltarif. Aber die Zwischenschritte können das Tarifwirrwarr nicht beseitigen (sondern vergrößern es sogar noch). Schon jetzt gibt es 16 verschiedene Monatskarten-Tarife, plus viele verschiedene Einzelkarten. So wirbt man keine neuen Fahrgäste. Wenn der TüBus wie im aktuellen Entwurf der SPD erst ab 19 Uhr ticketfrei ist, dann muss ich umso mehr darüber nachgrübeln, ob ich wirklich schon um 18.45 Uhr zu meinem Termin fahren will. Ticketfreiheit für alle hieße eben auch: Einfach einsteigen und mitfahren! Wir sind überzeugt: Davon würde eine große Ausstrahlung ausgehen, ein großer Image-Gewinn auch für den Tübinger Stadtverkehr. Wir brauchen keine kleinen Appetithäppchen, sondern einen „großen Wurf“!

11. Einwand: Ein Nulltarif ist politisch nicht durchsetzbar.

Antwort: Das kurzfristige Schielen nach Wählerstimmen führt nur zu einem „Weiter so“. Es fehlt der Mut, Visionen zu entwickeln und für sie zu streiten. Dies wäre aber nicht nur aufgrund der beschriebenen Herausforderungen notwendig, sondern auch als Antwort auf die zunehmende Politikverdrossenheit.  Auch in den 1990er Jahren, als überall umlagefinanzierte Semestertickets eingeführt wurden, gab es große Bedenken. Es hieß: Semestertickets werden die Studierenden nur dazu verführen, ihre Fahrräder stehen zu lassen und faul mit dem Bus zu fahren. Die Finanzierung sei zu teuer und belaste auch Studierende, die nie mit dem ÖPNV fahren. Mittlerweile hat sich gezeigt: Semestertickets sind ein großer Erfolg.

Es gibt also zahlreiche Einwände und Vorbehalte gegen einen ticketfreien Nahverkehr – aber auch zahlreiche gute Argumente, die diese Einwände entkräften können. Die Umsetzung eines ticketfreien ÖPNV ist ein großes Projekt, das sich wohltuend abhebt gegen das Klein-Klein aktueller Politikgestaltung – auch deshalb überrascht und erschreckt es wohl manche und erzeugt in der Stadtgesellschaft heftige Reaktionen. Für uns als Gruppe ZAK³ ist der von der Stadtverwaltung vorgelegte Vorschlag eines ticketfreien TüBus in der Finanzierung wesentlich gerechter als das derzeitige System. Und der von allen BürgerInnen finanzierte TüBus wäre ein gelungenes Beispiel für Solidarität in der Stadtgesellschaft – im Sinne eines guten Lebens für alle.

ZAK³ Tübingen (Gruppe gegen Kapitalismus, Krieg und Kohlendioxid), Mai 2017
Kontakt: zak@zak-tuebingen.org